(dieser Review erschien schon beim Vinyl-Keks)
Am 03.02.2023 erschien die LP “akustisch im Gewandhaus” von 100 Kilo Herz in den Shops und in euren Ohren; und ich hab keine Ahnung, wo ich diesen Review anfangen soll.
100 Kilo Herz, eine Punkband mit Gebläse-Sektion, die sich durch solidarische, kritische, herz-liche Lieder in unsere Herzen gespielt haben. Die im letzten Jahr einen berechtigten, wie auch von Seiten der Band reflektiert aufgearbeiteten, Shitstorm über sich ergehen lassen hat müssen. Eine (ist das noch?) Punk-Band die, durch die Bläser eben auch musikalisch unausweichlich, hochmelodischen Punkrock machen, mit Reibeisenstimme, Reimschema und Versmaß.
Nun stehen da, außer der ohnehin schon sechs-köpfigen Band, 10 Menschen auf der Bühne, die die Punkmusik der Band in ein akustisches Gewand packen.
Was ich mal vorweg sagen möchte ist, dass es für Punkbands heute wichtig sein sollte, in Locations und vor Publikum zu spielen, was “normalerweise” nichts mit dem Sound anfangen kann. Oder auch nicht unbedingt mit dem permanenten Querulantentum und Gemaule über gesellschaftliche Probleme, der Untergangsstimmung, die permanent durch die Lyrics weht. Und das machen 100 Kilo Herz schon von Anfang an echt gut. An den Stellen, an denen ihr Sound zu seicht wird, ihre Songstrukturen zu überschaubar, erreichen sie hoffentlich genau die Leute, die sonst nicht hinhören!
Und der Inhalt kriecht in ihre Ohren und versetzt ihre Hirne in Schwingung und sie beginnen zu denken. Sich zu engagieren, was immer.
Folglich ist es für mich absolut schlüssig, dass sich die Band so in die Herzen eines größeren Publikums gespielt hat, das auch im Gewandhaus sitzt, wo sonst eben klassische Musik gespielt wird. Wo Dirigenten ein Orchester durch den Abend geleiten und nun eine Brass-Punkband steht, die vor einem sitzenden Publikum in weißen Hemden, Fliege und Krawatte ihre melancholisch, kritischen Songs zum besten gibt.
Diesen Song spielen sie auch im Gewandhaus als ersten. Im Text heißt es:
Na klar habt ihr auch Hobbys, man muss ja was riskier’n
Mit Aktien spekulier’n, ein wenig Geld transferier’n
Und ich bin mir sicher, ich kann genau so sein
Alle, die zu wenig haben, vom Restgeld befrei’n
Ist doch genau das richtige Publikum, sofern denn außer Fans auch Menschen dort waren, die sonst die besagte Klassische Musik erleben.
In der Promo heißt das “Punkrock meets Hochkultur”. Als alter Couchpunker kommt mir da schon ein hochnäsiges Lachen aus der Kehle, respektive dem, was ich oben schon schrieb. Also ein lachendes und ein weinendes Auge!
Auch könnte man meinen, da es ja bekanntere Bands gibt, die gerade im Halbjahrestakt exklusive Media-Books rausbringen, dass 100 Kilo Herz eventuell etwas hoch greifen, nach gerade mal zwei Alben.
Wobei die Band es einfach schafft, greifende Hooks und gute Texte in abwechslungsreiche Songs zu packen, und das eben in kürzerer Zeit, als manch andere. Ich kann die beiden Platten “weit weg von zuhaus” und “stadt, land, flucht” wirklich empfehlen!
Wie auch immer, die erste Seite, bzw. die ersten sechs Songs haben mehr Tempo und starten lebhaft in dieses Set. Seite zwei beginnt mit viel Piano zu den Songs “Laternensong” und “Rücksitz”. Sind echte Gänsehautmomente.
Ich finde, dass man schon merkt, dass 100 Kilo Herz noch nicht die 100%-Profis sind. Aber genau das freut mich total, denn abgeklärte Rockbands gibt es echt genug und Punk lebt davon, dass man nicht alles perfekt abliefert! Die zusätzlichen Instrumente, gespielt von Stefan Didt (Saxophon), Jost Elvers (Posaune), Lorenz Fröhlich (Trompete) und Stephan Mühl (Percussion und Ukulele), bringen wirklich eine schöne Farbe in die Musik von 100 Kilo Herz.
Anspieltipps auf dieser Platte namens “akustisch im Gewandhaus” sind ganz klar “an Ampeln” (den mag ich sowieso voll gern und erinnert mich wahnsinnig an Captain Planet – und die sind auch eine ganz große Liebe) und noch “die Guten”!
Zum Abschluss: ganz großen Respekt an die Band, die sich da musikalisch absolut weiterentwickelt hat. Einzelnen Songs nicht nur einfach ein neues Instrument hinzugefügt, sondern auch an der Struktur gearbeitet hat.
Wer weiß, ob sie dieses Akustikset nochmal so aufführen; für dieses eine Mal allerdings wirklich klasse gespielt und mit maximaler Leidenschaft vorgetragen.
Könnt ihr hier live erleben:
20.01.23 Bitterfeld, AKW
21.01.23 Husum, Speicher
27.01.23 Zwickau, Kein Bock auf Nazis Festival
26.05. – 27.05.23 Kronach, Die Festung Rockt
24.06.23 Münster, Vainstream Rockfest
Das hier präsentierte Mediabook mit LP und Booklet gibt es bei Coretex.
Die Version im Gatefoldcover bei JPC
Erschienen bei Bakraufarfita Records. Aufgenommen im Rahmen der Reihe “Leipzig klingt weiter”.
PS: Wer nun in diesem Review vermisst, dass ich mich mehr äußere zu den Vorwürfen gegen den Ex-Gitarristen der Band (2021 bereits aus der Band ausgeschlossen), der kann sich sehr gerne das Statement von Rock am Berg Merkers vom Sommer des letzten Jahres durchlesen (und den Links dort folgen). Inzwischen hat sich einiges getan. Die Band und auch ihr Label Bakraufarfita haben sich konsequent um Aufklärung und Aufarbeitung bemüht. Ich habe da einiges mitgelesen, denke, die Band und die Crew machen das sehr gut und sind mit ihrer Art & Weise damit umzugehen wesentlich näher am Menschen und Geschehen, als so manch andere; hier nenne ich keine Namen.